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Das umfangreichste Gesetz im "Schönfelder"

Der "Schönfelder" ist eine Sammlung wichtiger Gesetze im Loseblattverfahren, die inzwischen über 3 500 Seiten enthält. Die erste Auflage dieser Sammlung erschien Anfang der dreißiger Jahre mit einem Umfang von 1300 Seiten. Sie sollte nur die allernotwendigsten Texte für das Studium der Rechtswissenschaft enthalten. Schon die erste Auflage wurde ein durchschlagender Erfolg für den Verlag. Die heutige Form einer Loseblattausgabe hat der Schönfelder 1935 bekommen (Beck, Der juristische Verlag seit 1763, in: Festschrift 225 Jahre C.H.Beck, 1988, 19, 26). Der Schönfelder gehörte dann auch zu den allerersten Büchern, die der Verlag nach dem Ende des zweiten Weltkrieges wiederbelebte.(Beck aaO, 29).

Den größten Umfang in dieser Textausgabe nimmt mit über 400 Seiten das BGB ein. Dabei entfällt ein geringer Teil dieses Textes allerdings auf Überschriften zu den einzelnen Paragraphen, die nicht zum Gesetzestext gehören, sondern vom Verlag hinzugefügt wurden, weshalb sie in Klammern stehen. Zum Vergleich: Das Grundgesetz kommt mit nur gut fünfzig Seiten, das StGB mit weniger als 150 Seiten aus. Den zweiten Platz nach dem BGB belegt mit gut 250 Seiten die Zivilprozeßordnung (ZPO). Das HGB wäre vermutlich umfangreicher als die ZPO, ist aber im Schönfelder nicht vollständig abgedruckt. Schon dieser kurze Blick in die Textsammlung zeigt die überragende Bedeutung des BGB für die juristische Ausbildung ebenso wie für die juristische Praxis.

Mit dem heutigen Umfang von über 3500 Seiten beschränkt sich der Schönfelder nicht mehr auf die "allernotwendigsten Texte für das Studium", vielmehr werden mit dieser Ausgabe auch die Anforderungen der juristischen Praxis abgedeckt. Der Schönfelder gehört damit zum unverzichtbaren Handapparat jedes Juristen. (Vgl. Waltl, Bibliothek und Know-How-Sammlung, in: Büchting/Heusen (Hrsg.), Beck'sches Rechtsanwalts-Handbuch, 1989, 1072, 1075). Mit dem gegenüber der ersten Auflage auf nahezu das Dreifache gestiegenen Umfang ist es allerdings für den juristischen Laien und auch für den Anfänger in einem juristischen Studium kaum noch möglich, den gesamten Text der Ausgabe zu lesen. Das ist aber auch gar nicht sinnvoll. Denn die im Schönfelder erfaßten Gesetzestexte sind nicht alle gleich wichtig. Schon Hedemann stellte in einer 1933 erschienenen berühmten Monographie (Die Flucht in die Generalklauseln, 6) fest, es gebe - von ihm so bezeichnete - "königliche Paragraphen", zu denen er etwa § 242 BGB zählt (eine der sogenannten Generalklauseln im Bürgerlichen Recht, der Grundsatz von Treu und Glauben). 100 Paragraphen aus einem Winkel des Erbrechts ("Bettelleute") seien weniger wichtig als diese eine Vorschrift. Manche Vorschriften des BGB sind also erheblich wichtiger als andere. Bei anderen Gesetzen ist das ebenso: Auch im StGB ist zufällig § 242 besonders wichtig (Strafbarkeit des Diebstahls).

Damit ergibt sich für den Leser das Problem der Auswahl. Während der Jurist weiß oder jedenfalls wissen sollte, welche der zahlreichen im Schönfelder abgedruckten Vorschriften am wichtigsten sind, weiß der Laie oder Anfänger das noch nicht. Während es auf den ersten Blick und sicher feststellbar ist, welches der im Schönfelder abgedruckten Gesetze den größten Umfang hat, ist die weitere Frage, welche der abgedruckten Vorschriften die wichtigsten sind, ohne Vorkenntnisse und zusätzliche Informationen nicht zu beantworten. Das wäre anders, wenn man sich in einem Gedankenexperiment einmal eine Gesetzesausgabe vorstellt, die die erfaßten Vorschriften in der Reihenfolge ihrer Wichtigkeit abdruckt. In einer solchen Ausgabe wäre § 242 BGB (Grundsatz von Treu und Glauben) zweifellos weit vor § 240 BGB (Pflicht zur Ergänzung von Sicherheiten) abgedruckt. Eine solche Ausgabe könnte man ohne jede Vorkenntnisse in die Hand nehmen und auf Seite 1 zu lesen beginnen und hätte damit doch die Gewißheit, die wichtigsten Teile der Gesetzesausgabe zuerst zu lesen.

Bisher ist dabei noch offengeblieben, nach welchen Kriterien man eigentlich die relative Wichtigkeit von Vorschriften des Gesetzes zu bestimmen hat. Zwar gibt es zahlreiche Regeln und Methoden dafür, die inhaltliche Bedeutung einer Vorschrift durch Auslegung festzustellen. Denn eben das ist für den Juristen eine alltägliche und häufige Aufgabe. Dagegen wird die Frage nach der relativen Bedeutung einer Vorschrift in der Rechtsordnung seltener gestellt, so daß man nicht auf eine ähnlich entwickelte Methodenlehre zurückgreifen kann, wie das bei der Ermittlung der inhaltlichen Bedeutung von Vorschriften der Fall ist.

Denkbar sind verschiedene Kriterien. Ein sehr einfaches Kritirium wäre es, etwa für das BGB abzuzählen, wieviele Seiten die Kommentierung der betreffenden Vorschrift im "Palandt", dem wichtigsten Kommentar zum BGB, umfaßt. Je umfangreicher die Kommentierung ist, desto wichtiger ist nach diesem Kriterium die Vorschrift. Ein anderes Kriterium wäre es, in juristischen Datenbanken abzuzählen, wie häufig welche Vorschriften auftauchen. Eine Datenbank ist eine umfangreiche Sammlung von für einen Computer lesbaren Informationen. Für einen Computer wäre es eine recht einfache Aufgabe, in umfangreichen Datenbanken derartige Zahlenwerte festzustellen.

Gegenüber solchen formalen wären auch inhaltliche Kriterien denkbar. So ist etwa die Garantie des Grundrechts auf Leben in Art. 2 Abs. 2 des Grundgesetzes eine der wichtigsten Vorschriften der deutschen Rechtsordnung, da sie ein besonders wichtiges Grundrecht betrifft. Die Kriterien für die relative Bedeutung von Vorschriften in der Gesamtrechtsordnung sind daher keineswegs klar und eindeutig. Deshalb ist nur eine ungefähre Einordung möglich und daher werden bei einer solchen Einordnung zahlreiche Grenzfälle auftauchen.

Es kann daher hier dahinstehen, ob eine Gesetzesausgabe, die die Vorschriften in der Reihenfolge ihrer relativen Bedeutung anordnet, für Studienzwecke sinnvoll und für einen Verlag ein erfolgversprechendes Projekt. Ist. Entscheidend sind hier vielmehr zwei Punkte: Erstens ist nicht zu bestreiten, daß es unter den zahlreichen im Schönfelder abgedruckten Vorschriften solche gibt, die am wichtigsten sind und daher für den Studenten die "allernotwendigsten" Texte darstellen. Und es ist eine durchaus reizvolle Vorstellung, etwa nach den zehn wichtigsten Vorschriften des deutschen Rechts zu forschen (die "zehn Gebote" des deutschen Rechts). Das gilt besonders, wenn man eine Einführungsvorlesung zum deutschen Recht etwa in Japan vorbereitet, bei der naturgemäß keine Zeit für mehr als die allernotwendigsten Texte zur Verfügung steht. Zweitens ist es zumindest als Gedankenexperiment interessant, sich eine Anordnung umfangreicher Texte nach ihrer Bedeutung vorzustellen.

Quelle: Karl-Friedrich Lenz, Das Ungewöhnlichste im Recht, München, Beck 1992, S. 13-16.