Kryptologie und Auslegung


I. Einleitung

Kryptologie ist eine Wissenschaft, die sich mit der Verschlüsselung von Texten beschaftigt. So ist es zum Beispiel ein sehr einfacher Schlussel, einfach statt jedem Buchstaben den im Alphabet folgenden zu tdgsfkcfo. Das Wort "schreiben" wird dann zu "tdgsfkco". Ein derartiger Schlüssel ist auch besonders leicht zu entziffern, die Entzifferung von verschlüsselten Texten ist ein weiteres Gebiet, mit dem sich die Kryptologie beschaftigt.

Nun soll hier keine kryptologische Analyse des Rechts versucht werden, indem etwa Erkenntnisse der Kryptologie fur die Rechtswissenschaft übertragen werden. Das ware vermutlich neu, aber unergiebig. Vielmehr beschränke ich mich darauf, in einer Analogie zum Vorgang der Verschlüsselung und Dechiffrierung von Texten Aussagen über die Auslegung von Texten zu entwickeln. Die Auslegung von Texten, besonders von Gesetzen, ist sicher ein zentraler Gegenstand der Rechtswissenschaft, der einmal verdient, in dieser ungewöhnlichen Perspektive näher betrachtet zu werden.

Am Rande werde ich allerdings eine Form der Verschlüsselung vorstellen, die relativ sicher ist. Das soll in einem ersten Abschnitt geschehen. Dieses Konzept ist schon als solches von Interesse, dient aber hier nur der Illustration von Aussagen in späteren Teilen.


II. Konzept der Verschlüsselung

Das herkömmliche Konzept für die Verschlüsselung von Texten läßt sich wie folgt beschreiben. Ausgangspunkt ist der Klartext. Einzelne Buchstaben oder Worte des Klartextes werden durch jeweils andere Buchstaben oder Worte ersetzt. Dieser Vorgang wird durch eine Funktion gesteuert, die unterschiedlich kompliziert ist (z. B. "nächster Buchstabe im Alphabet"). Der Empfanger der verschlüsselten Nachricht führt die betreffende Funktion in umgekehrter Reihenfolge aus und erhält dadurch wieder den ursprunglichen Klartext.

Wenn man die Funktion nicht kennt, nach der ein Text verschlüsselt ist, aber eine hinreichende Menge von chiffriertem Text zur Verfügung hat, dann kann man versuchen, diesen Text zu entschlüsseln. Diese Aufgabe lauft darauf hinaus, die Funktion zu finden, nach der die Ersetzung vorgenommen wurde. Wichtigster Anhaltspunkt dafur sind statistische Eigenheiten der Sprache. So sind viele Buchstaben wesentlich häufiger als andere, etwa der Buchstabe "E" wesentlich häufiger als der Buchstabe "X".

Die Einzelheiten der Entschlüsselung sollen hier auf sich beruhen. Ein wichtiger Punkt allerdings ist allerdings zu betonen. Wenn man die gesuchte Funktion, den Schlüssel, einmal gefunden hat, dann ist es verhältnismäßig einfach und sicher moglich, das zu beweisen. Ich nenne diesen Beweis hier den Richtigkeitsbeweis. Wenn man z. B. den Text "tdgsfkco" mit der Hypothese betrachtet, die verschlüsselnde Funktion könnte vielleicht darin liegen, jeweils den nächsten Buchstaben des Alphabetes zu nehmen, so erhalt man als Klartext nach dieser Hypothese das Wort "schreiben". Dann kann man mit einer erheblichen Sicherheit annehmen, daß man die richtige Funktion gefunden hat. Denn es ware ein sehr ungewöhnlicher Zufall, wenn auch eine andere Funktion einen sinnvollen Text ergeben wurde.

Dieser Richtigkeitsbeweis wird um so sicherer, je länger der entschlüsselte Text ist, der einen sinnvollen Klartext gibt. Bei allen heute verwendeten Verfahren zur Verschlüsselung ist der Richtigkeitsbeweis kein Problem. Wenn man sich irgendwie die Funktion zur Verschlüsselung verschafft hat, kann man jedem Gericht ohne weiteres durch einfaches Ausprobieren nachweisen, daß die gewählte Funktion richtig ist.

Genau das soll bei dem hier vorgeschlagenen Konzept anders werden. Ich gehe zunächst von einem sehr einfachen Modell aus. Ich habe einen Text, der nur ein einziges Bit Information enthalt, also entweder ja oder nein. Dieser Text wird mit einer der üblichen hochkomplizierten Funktionen verschlüsselt. Das Ergebnis wird auch entweder ja oder nein sein. In diesem Modell ist nun der Richtigkeitsbeweis unmöglich. Selbst wenn man die richtige Funktion gefunden hat, läßt sich das nicht feststellen, weil dazu die Informationsmenge zu gering ist. Damit ist aber eine Entschlüsselung endgültig unmöglich.

Mein Konzept zur Verschlüsselung geht nun dahin, diese Schwierigkeit des Richtigkeitsbeweises auch bei größeren Informationsmengen zu erhalten. Es sieht aus wie folgt.

Zunachst ist ein elektronisches Lexikon notig. Dieses Lexikon wird sehr umfangreich sein und nahezu alle Worte der deutschen Sprache in allen ihren Beugungsformen enthalten. Das Lexikon wird weiter nicht nach dem Alphabet, sondern nach der allgemeinen statistischen Häufigkeit der Worte geordnet sein. Das Wort "und" zum Beispiel ist sehr häufig und wird daher in diesem Lexikon weit vor dem Wort "Aasgeier" verzeichnet sein.

Die Verschlüsselung lauft nun ab wie folgt. In einem ersten Schritt wird ermittelt, welche Nummer ein Wort des Klartextes in dem Lexikon hat. In einem zweiten Schritt wird diese Nummer mit einer mathematischen Funktion verändert. Diese Funktion ist so angelegt, daß auf niedrige Nummern häufiger verwiesen wird. Damit wird die Häufigkeitsverteilung des Klartextes im verschlüsselten Text ungefähr erhalten. In einem dritten Schritt wird schließlich das Wort als Codetext gewahlt, dessen Nummer dem Ergebnis des zweiten Schrittes entspricht.

Die Entschlüsselung ist bei diesem Konzept nun aus verschiedenen Gründen schwierig. Auf einen davon aber kommt es hier nur an. Nehmen wir an, bei der Entschlüsselung wird die Hypothese Nummer eins von einem Computer geprüft. Der Computer entschlüsselt den Text nach dieser Hypothese und betrachtet nun den so gewonnenen Klartext. Dann muß entschieden werden, ob die Hypothese richtig war, also der Schlüssel gefunden wurde. Dies ist mit einer einfachen Rechtschreibungs-Überprüfung nicht zu machen. Der Text wird namlich auch dann nur richtig geschriebene Worte der deutschen Sprache enthalten, wenn der Schlüssel noch nicht gefunden wurde. Damit wird es notig, grammatische Fehler oder inhaltliche Sinnlosigkeit als Kriterium zu verwenden. Dies ist etwas schwieriger als die reine Rechtschreibprüfung.

Der vorliegende Gedanke kann weiter ausgebaut werden. So kann man sich vorstellen, daß bei der Verschlüsselung auch grammatische Fehler ausgeschlossen werden (z.B. Verschlüsselung nur von Hauptwortern, Eigenschaftswortern und Verben, jeweils durch andere Worte ähnlicher Häufigkeitsverteilung und gleicher Kategorie). Der Richtigkeitsbeweis ist dann nur noch inhaltlich, nicht mehr formal moglich.

Besonders gut eignet sich ein solches Verfahren fur die Verschlüsselung einer Liste von Telefonnummern. Man nehme z.B. sämtliche in der Bundesrepublik verwendeten Telefonnummern (auf CD-Rom erhältlich) als Lexikon. Dann sind Klartext und verschlüsselter Text formal vollig identisch. Ein Richtigkeitsbeweis wird unmöglich. Selbst wenn man das simpelste Verfahren verwendet (z.B. statt der Klartext-Nummer die jeweils folgende im Lexikon), ist dies nicht nachweisbar. Wer beschuldigt wird, auf einer Liste derartiger Telefonnummern z.B. für Erwerber von Kinderpornographie aufgeführt zu sein, kann vor Gericht darauf hinweisen, daß jede andere Verschlüsselungsfunktion ebenfalls zu einem formal richtigen Ergebnis führt, somit die Richtigkeit der Entschlüsselung nicht eindeutig ist.


III. Anwendung dieses Konzeptes auf die Auslegung juristischer Texte

Das auszulegende Gesetz entspricht dem chiffrierten Text. Das Auslegungsergebnis entspricht dem Klartext. Wenn z.B. umstritten ist, ob eine Sitzblockade als Gewalt im Sinne des Nötigungstatbestandes (§ 240 StGB) anzusehen ist, so stehen sich zwei mögliche Alternativen eines Klartextes gegenuber.

Kennzeichnend fur die Auslegung im Vergleich zur Entschlüsselung ist erstens, daß normalerweise nur sehr wenige Möglichkeiten eines Klartextes in Betracht kommen. Demgegenuber beruhen die meisten herkommlichen Verfahren zur Verschlüsselung darauf, daß eine sehr große Menge von möglichen Klartexten möglich ist, von denen jedoch nur einer der wirkliche Klartext ist. Der zweite Unterschied liegt darin, daß die Wahl unter diesen verschiedenen Moglichkeiten (der Richtigkeitsbeweis) nicht nach simplen Kriterien (z.B. Rechtschreibung oder Grammatik) möglich ist. Der oben genannte Streit um die Auslegung des Gewaltbegriffes etwa wird für einen Computer nicht nachvollziehbar sein.

Ein weiterer wichtiger Unterschied liegt darin, daß für Gesetzestexte im Gegensatz zu verschlüsselten Texten die leichte Verständlichkeit für den Leser nicht unerwünscht, sondern erforderlich ist. Dies gilt besonders für strafrechtliche Gesetze. Diese müssen von vornherein Klartext reden. Wenn erst nach einer aufwendigen Entschlüsselung in Form einer auslegenden Erklärung des Gesetzestextes deutlich wird, was eigentlich verboten sein soll, so widerspricht dies dem verfassungsrechtlich verbürgten Bestimmtheitsprinzip.

Der wichtigste Unterschied ist jedoch, daß im Gegensatz zur Entschlüsselung bei der Auslegung in vielen Fallen ein Richtigkeitsbeweis nicht moglich ist. Niemand kann den geheimen Schlüssel angeben, mit dem sich entscheiden ließe, welche von mehreren Ansichten bei umstrittenen Auslegungsfragen richtig ist. Zwar gibt es Verfahren, um für einzelne Fälle zu endgültigen Entscheidungen zu kommen. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über eine bestimmte Frage ist für das betreffende Verfahren verbindlich, auch wenn sie noch so falsch sein sollte. Dies gilt aber nicht etwa, weil das Verfassungsgericht im Besitz eines geheimen Schlüssels zur Entschlüsselung aller chiffrierten Gesetzestexte wäre, eines Schlüssels, den sonst niemand zur Verfugung hat. Es gilt vielmehr allein aus praktischen Gründen. Für das konkrete Verfahren muß irgendwann ein Ergebnis her. Dies bedeutet nicht, daß es überhaupt richtige Entscheidungen gibt. Es bedeutet erst recht nicht, daß das Bundesverfassungsgericht oder die bei ihm tätigen Richter die Wahrheit für sich gepachtet hätten.


IV. Kryptologie und TopTexT-Konzept

Die Erschwerung des Richtigkeitsbeweises beruht im obigen kryptologischen Konzept darauf, daß die durch verschiedene Schlüssel erzeugten Klartexte sich formal ähnlich sind, wahrend bei den meisten üblichen Verfahren nur bei Verwendung des richtigen Schlüssels sinnvoller Text, bei Verwendung falscher Kandidaten jedoch nur Unsinn heraus kommt. Für das TopTexT-Konzept (Anordnung von Textmengen, etwa Paragraphen oder Entscheidungssammlungen nach der Haufigkeit von Zitaten) ist jedoch das andere Element des obigen kryptologischen Konzeptes entscheidend, nämlich die Anordnung der Lexikon-Elemente nach ihrer Verwendungshäufigkeit.

Im einfachsten Fall kann man etwa nur die Buchstaben des lateinischen Alphabetes in das Lexikon aufnehmen. Man wurde dann den Buchstaben "e" als ersten eintragen, weil dieser Buchstabe in deutschen Texten am häufigsten vorkommt. Für die japanische Sprache ware entsprechend das Schriftzeichen für "Tag, Sonne, Japan" als erstes einzutragen, da dieses statistisch gesehen am häufigsten verwendet wird.

Wählt man nun für die Verschlüsselung eine Funktion, die auf hochrangige Eintragungen im Lexikon häufiger verweist als auf niederrangige, so bleibt die Häufigkeitsverteilung der Buchstaben, Schriftzeichen oder Worte im wesentlichen im verschlüsselten Text erhalten. Dies erschwert die Analyse. Denn Grundlage der meisten Verfahren zur Entschlüsselung sind Aussagen uber die Wahrscheinlichkeit der statistischen Verteilung von Buchstaben im Klartext oder im verschlüsselten Text. Wenn das Verfahren diese Wahrscheinlichkeiten in etwa gleich halt, wird die Analyse schwieriger, so etwa bei den sogenannten polyalphabetischen Systemen.

Das geschilderte Konzept mag als Idee fur ein Verschlüsselungssystem nicht uninteressant sein. Darauf kommt es aber hier nicht an. Vielmehr sollte nur gezeigt werden, wo die Idee zum TopTexT-Konzept herkommt. Dieses ist als solches von erheblich größerer praktischer Bedeutung als ein noch so sicheres Verschlüsselungsverfahren.